Das kleine Yoga-ABC: Brahmacharya

Heute geht es heiß her! Es geht um SEX. Oder eben die Enthaltsamkeit davon. Denn das scheint Brahmacharya, eine der fünf Yamas in der Yoga-Philosophie vorzuschreiben. Wie überhaupt die Enthaltsamkeit von so ziemlich allem, was Spaß macht. Die Frage, die ich mir hier stelle, ist: Was soll denn das bitte? Aber sehen wir uns erst mal an, worum es hier geht.

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Brahmacharya – Kontext, Kontext, Kontext

Viele der Yamas und Niyamas, der Verhaltensregeln für Yogis, wurden ursprünglich für den Kopf eines traditionellen indischen Haushalts entwickelt und stellen damit ein moralisches Ideal für dar, das mit unserem realen Leben heute ungefähr so viel zu tun hat wie die Zeitschrift „Schöner Wohnen“. Brahmacharya soll laut dem Yoga Sutra zu großer Lebenskraft und Vitalität führen. Und diese Lebenskraft stammt daher, dass man sich „sexuell mäßigt“, also enthaltsam lebt oder, wie es die katholische Kirche will, nur Sex hat, um Ahnen zu zeugen.

Mit vielem in der Yoga-Philosophie verhält es sich wie mit dem alten Testament: Irgendwann waren diese Regeln man gesellschaftlich sinnvoll. Vielleicht, weil man nicht wollte, dass es zu Erbstreits und der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten im großen Stil kommt 😉

Wie Ahimsa ist diese Regel auch anderen Glaubensrichtungen und Philosophien nicht unbekannt. Ich gehe mal davon aus, dass du nicht vorhast, dich einem Kloster anzuschließen oder den Rest deines Lebens in einem indischen Ashram zu verbringen. Was können wir also aus diesem Konzept der Enthaltsamkeit lernen?

Ich möchte mich an dieser Stelle von jedem sexuellen Stigma entfernen. Ehrlich gesagt möchte ich mich ganz vom Thema Sexualität entfernen. Neben Sex gibt es eine ganze Reihe anderer Enthaltsamkeitsregeln, die man beim Yoga immer wieder hört. Über Ahimsa und vegetarische Ernährung habe ich beim letzten Mal schon gesprochen. Eine andere Regel, die man oft hört, ist auf Knoblauch und Zwiebeln zu verzichten, weil diese zu stimulierend wirken sollen. Ganz ehrlich, wenn du bereits ein sexuell abstinenter Mönch in einem tibetischen Kloster bist, könnte das vielleicht so sein. Aber wenn du dich in der normalen Gesellschaft bewegst, ist schon dein Morgenkaffee tausend Mal stimulierender als ein bisschen Zwiebel. Selbst wenn du auf Genussmittel vollkommen verzichtest, ist das Leben in der Stadt, und ehrlich gesagt, meist auch das auf dem Land, an sich schon stimulierend genug.

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Eine weitere Enthaltsamkeitsregel möchte ich noch kurz ansprechen. In meiner Yoga-Lehrerausbildung wurden wir dazu angehalten, uns „onion & garlic free“ zu ernähren. Das hat allerdings überhaupt nichts mit diesem Bramacarya zu tun. Sicher hast du schon mal jemanden mit einer richtig fiesen Knoblauchfahne gerochen, wenn du selbst keinen gegessen hast. Wenn vierzig Leute jeden Tag stundenlang bei 30 Grad nebeneinander schwitzend Yoga praktizieren und einander auch noch dauern berühren, weil wir die Hands-on Assists üben, fällt ganz schnell auf, wer sich nicht an die Regel gehalten hat: Der Körpergeruch ist einfach widerwärtig. Im Ayurveda werden Zwiebeln und Knoblauch ebenfalls nur in medizinischer Dosis verwendet. Kann man durchaus probieren, wenn man Verdauungsprobleme hat.

Darüber, dass Alkohol und Drogen nicht so prall für Körper und Seele sind, muss ich wohl auch gar nicht sprechen. Also, sprechen wir über das, woran wir in unserer Zeit wirklich arbeiten können und müssen.

Nicht zu viel, nicht zu wenig – der Mittelweg

Es gibt ja noch eine Menge Luft dazwischen, etwas gar nicht zu machen, also der absolutem Enthaltung, und dem Exzess. Genau daran kann jeder von uns arbeiten. Wie bei der Geschichte mit Goldlöckchen und den drei Bären geht es bei Bramacharya vor allem darum, nicht zu viel, nicht zu wenig zu machen, sondern etwas zu finden, was für uns genau richtig ist.

Ein Beispiel dafür ist der Hashtag „Yoga every damn day“, der oft so interpretiert wird, dass man jeden Tag Asana, also eine physische Yogapraxis betreiben sollte. Das ist überhaupt nicht notwendig. Sicher, sich öfter als einmal die Woche auf der Matte zu bewegen, ist sinnvoll. Aber jeden Tag den gleichen Yogastil und auch noch eine körperlich intensive Praxis bietet dem Körper keine Chance, sich zu erholen und zu regenerieren.

So ist es bei allem, was wir tun. Oft nehmen wir uns etwas vor und sind dann total hardcore darauf eingeschossen, geben es aber nach kurzer Zeit wieder auf. Jeden Tag Sport, morgens früh aufstehen, „Clean Eating“, kalter Entzug… auf Dauer zieht man so etwas extremes nicht 100 % durch oder schadet sich früher oder später selbst.

Auf einen anderen Punkt möchte ich an dieser Stelle ganz besonders eingehen, und das ist unser Kontakt und Umgang mit der Welt um uns herum… der in diesem digitalen Zeitalter wesentlich von Medien geprägt wird.

Reizüberflutung

Was wir von Brahmacharya lernen können, ist es, uns genau anzusehen, womit wir unsere Zeit verbringen. Immer nur arbeiten tut uns nicht gut. Dauernd nur seichte Unterhaltung verblödet uns ebenfalls und bringt uns sicher nicht dazu, das beste aus unserem Leben zu machen.

Was machst du morgens als allererstes, wenn du wach wirst? Wenn du wie die meisten, ich übrigens auch, dein Handy als Wecker nutzt, werden dann erstmal alle möglichen Apps gecheckt. Selbst wenn du kein Social-Media-Suchti bist, gibt es doch mindestens einen Blick in die E-Mails, die Nachrichten und aufs heutige Wetter. All die kleinen und großen Katastrophen der Welt strömen auf dich ein, bevor du überhaupt aufgestanden bist. Und das ist die Grundlage für dienen ganzen Tag. Wie selbstbestimmt kannst du dich dabei verhalten?

Was siehst du, wenn Leute draußen auf der Straße rumlaufen? Immer mehr Smartphone-Zombies. Mal davon abgesehen, dass wir auch mit anderen Geräten ständig online sind. Bei manchen läuft sogar der Fernseher, während sie auf dem Tablet etwas nachlesen und gleichzeitig mit dem Handy per WhatsApp chatten. Neulich habe ich im Fitnessstudio so jemanden beobachtet… neben mir war eine Dame auf dem Laufband, starrte auf das Fernsehprogramm des Fitnessstudio-Kanals und lief so richtig langsam. Erst dachte ich, sie redet mit mir, dann dachte ich, sie hat ein geistiges Problem. Bis mir auffiel, neben dem Laufen und Fernsehen führte sie auch noch über ihr Handy ein Gespräch mit jemanden. Ob sie wohl bei irgendeiner dieser Tätigkeiten wirklich geistig oder auch nur körperlich wirklich dabei war?

Ich bin immer ganz stolz darauf, keiner von diesen Smartphone-Süchtigen zu sein. Auch einen Fernseher habe ich in meiner eigenen Wohnung noch nie besessen. Ich bilde mir also ein, sehr bewusst Medien zu konsumieren. Aber trotzdem laufe ich den Großteil der Zeit mit Kopfhörern und Musik auf den Ohren durch die Welt und schotte mich so von dem ab, was um mich herum geschieht. Manchmal ist das gut so. Aber unser Kopf braucht gelegentlich auch Leerlauf. Erst das ermöglicht es uns, kreativ und produktiv zu sein. Wenn du unter Zeitdruck nach Ideen suchst, kommt oft nicht viel dabei raus. Wenn du statt dessen eine Runde spazieren gehst (ohne Musik!), lösen sich so manche gedankliche Knoten wie von selbst.

Fear of Missing Out

Social Media, seichte Unterhaltung, harte Drogen: All das hilft uns, abzuschalten. Eine Trennung zwischen Körper, Geist und Seele herzustellen und gleichzeitig überall und nirgendwo zu sein.

Durch soziale Medien wird uns suggeriert, wir verpassen irgendwas, wenn wir nicht ständig „on“ sind. Fear of Missing out oder Fomo heißt das. Aber was verpasst du denn schon? Sicherlich nicht das, was du schon immer mal lernen oder erfahren wolltest.

Mach doch zuerst das, was du wirklich willst. Was wolltest du schon immer mal ausprobieren? Was lernen? Welche Menschen oder Dinge bedeuten dir am meisten? Was macht dich so richtig happy? Die Ablenkungen können warten.

Mach dich mal nicht erreichbar. Ja, es gibt immer mal wieder Umstände, unter denen du unbedingt erreichbar sein musst, vielleicht weil ein Familienmitglied krank ist. Aber ganz ehrlich, wie häufig ist das wirklich der Fall? Schalte das Handy ab oder zumindest in den Flugmodus. Lass dir nicht einreden, dass es notwendig ist, sofort auf jede Nachricht zu reagieren.

Aber was, wenn du keine Ahnung hast, was du überhaupt willst?

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Auf der Matte

Wenn dir der Kopf so sehr schwirrt von den vielen Reizen und Ablenkungen, ja dann kann so eine richtige Askese mal angesagt sein. Ein Tag oder Wochenende, an dem du dich allein zurückziehst. Eine Fastenkur im traditionellen Heilfastenstil eignet sich auch gut dafür. Aber es muss ja gar nicht so extrem sein.

Eine physische Yoga-Praxis bietet uns die Chance, wirklich nur eine Sache zu machen. Oder zumindest, uns darin zu üben (jeder denkt im Savasana schon mal an das bevorstehende Abendessen; trotzdem ist das besser, als wenn du kein Yoga gemacht hättest). Mit Asana und Atmung haben wir die Möglichkeit, Körper, Geist und Seele zu verbinden. Auch Meditation ist nichts anderes: Es geht dabei nicht zwangsweise darum, an nichts zu denken, wie es manche Meditationsschulen vermitteln. Es geht viel mehr darum, sich auf das Notwendigste zu konzentrieren. Du darfst durchaus Gedanken haben. Aber nimm selbst die Zügel in die Hand. Bestimme, wem oder was du deine Aufmerksamkeit schenkst und was nur Hintergrundrauschen ist.

Auch das ist Yoga.

(Und dann, von mir aus, hab jeden geilen Sex, auf den du Lust hast, so viel du magst, solange es im gegenseitigen Einverständnis zwischen mündigen Menschen geschieht 😉)

Moin!

Lust darauf, mehr in deinen Körper anzukommen und nicht nur deinem Kopf abzuhängen? Yoga ganzheitlich zu praktizieren, ohne ins Esoterische abzugleiten? Dann könnten wir zueinander passen.

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